Story

Ann-Sophie feiert zweimal im Jahr Geburtstag

Mit 18 Jahren änderte sich Ann-Sophies Welt. Ann-Sophie hatte große Pläne. Pläne für ihr Studium. Pläne, die Welt zu erkunden. Pläne, neue Freundschaften zu knüpfen. 127 Minuten dauert es, bis ihre Träume zerplatzten.

Ann-Sophie Patientengeschichte

Schöne heile Welt

Es war ein heißer Sommer. Ein Sommer, in dem man sich oft mit Freunden am See trifft. Genau wie auch Ann-Sophie. Sie traf sich in diesem Sommer fast täglich mit ihren Freunden am See. Und das, obwohl sie mitten in der Abivorbereitung steckten. Aber so ein bisschen Ablenkung von dem ganzen Stress und Druck musste doch sein. Ann-Sophie genoss diesen Sommer in vollen Zügen, denn es war ihr bewusst, dass es der letzte Sommer dieser Art war. Nach dem Abi würde alles anders werden. Sie alle hatten große Pläne. Weltreisen, Studentenleben, die erste eigene Wohnung, eine fremde Stadt, neue Freunde. Das waren die Themen, die in diesem Sommer in Ann-Sophies Kopf herumschwirrten. Gedanken über ihre Zukunft, über große Pläne und ein neues, aufregendes Leben. Sie freute sich auf das Neue, das Unbekannte.


Das wird schon nichts Schlimmes sein. Ich bin doch erst 18.

Es war heiß in diesem Sommer. Sehr heiß. Die heißen Tage reihten sich aneinander. Und es war stressig für Ann-Sophie. Da kann man ja schon mal müde sein. So fing es an. Mit dieser bleiernen, schweren Müdigkeit, die Ann-Sophie überkam. Es wurde immer anstrengender zu lernen, sich zu konzentrieren, an den See ging Ann-Sophie schon lange nicht mehr. Die Zeit mit ihren Freunden fehlte ihr, aber sie schaffte es nicht, zu überwältigend war diese Müdigkeit. Egal, wie früh Ann-Sophie ins Bett ging, am Morgen wachte sie mit der gleichen Müdigkeit auf, mit der sie auch ins Bett gegangen war. Vielleicht Vitamin-D-Mangel? Das passte aber nicht zu der Jahreszeit und der vielen Zeit, die sie im Freien verbracht hatte. Ann-Sophie wurde immer blasser, die Farbe wich ihr immer weiter aus dem Gesicht. Von etwas "Schlimmen" gingen sie aber alle nicht aus. Schließlich war sie ja erst 18...


Das Fieber

Das Fieber kam überraschend und haute Ann-Sophie endgültig um. Sie war so erschöpft wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie schaffte es kaum noch aufzustehen, entspannen konnte sie sich aber auch nicht, weil sie sich doch eigentlich auf das Abi vorbereiten musste! Es war Ann-Sophies Vater, der sie schlussendlich ins Krankenhaus brachte. Ann-Sophies Vater sieht traurig aus, wenn er über diesen Tag spricht. Diesen Tag, an dem er seine Tochter ins Krankenhaus brachte, ungewiss, was ihr fehlt. Die Entscheidung fiel ihm schwer, weil er wusste, dass Ann-Sophie nicht ins Krankenhaus wollte, aber das Leid seiner Tochter konnte er sich nicht länger anschauen. Er hatte Angst um sie. Angst um sein kleines Mädchen.


127 Minuten

Zwei Stunden dauerte es. 120 Minuten, in denen die Welt noch in Ordnung war. Eine anstrengende, ermüdende Welt, aber sie war in Ordnung. Ein paar Tage noch, dann konnte sie bestimmt wieder mit ihren Freunden an den See gehen, das war es, woran Ann-Sophie dachte. Noch könnte sie auch das Abi schaffen, es war noch nicht zu viel Zeit verloren. 127. Eine Zahl, die Ann-Sophie nie wieder vergessen wird. Sie sah sie ein paar Tage später auf dem Dokument ihrer Einlieferung. Die Zeit zu der sie eingeliefert wurde. 127 Minuten waren es. 127 Minuten nach ihrer Einlieferung brach Ann-Sophies Welt zusammen.


Blutkrebs? Was ist das überhaupt?

Ann-Sophie sieht nachdenklich aus, wenn sie über diesen Tag spricht. Sie merkt es selbst nicht, aber sie kratzt sich an der Hand. Sie scheint nervös zu sein. Schon als der Arzt ins Zimmer kam, war es klar. Es war ihm anzusehen. Diese Traurigkeit. Das Mitgefühl. Die Unsicherheit. Das war das erste Mal, dass Ann-Sophie daran dachte, dass sie ernsthaft krank sein könnte. Vielleicht eine Lungenentzündung? Davon ging sie in diesem Moment aus. Mit Lungenentzündungen war ja nicht zu spaßen, das konnte böse ausgehen. Vielleicht war der Arzt deswegen so angespannt? Heute, vier Jahre später, kann sie sich nur noch an einziges Wort erinnern. An den Rest erinnert sie sich nicht mehr. Nur dieses eine Wort, das wieder und wieder in ihrem Kopf nachhallte. Ein Wort, das sie kannte, worüber sie aber nichts wusste. Worüber sie sich keine Gedanken machen musste und worüber sie sich auch niemals hätte Gedanken machen wollen. Blutkrebs? Was war das überhaupt?


Das Warten

Rückblickend empfindet Ann-Sophie das Warten als das Schlimmste. Dieses endlose Warten. Das Warten darauf, ob sie überleben darf. Die Ärzte taten alles für sie, sie gaben ihr Bestes, um ihr ein angenehmes Leben zu ermöglichen, um ihr Ängste zu nehmen und sie physisch und psychisch zu unterstützen. Aber da waren immer diese Zahlen. Diese Zahlen, die ihre Überlebenswahrscheinlichkeit zeigten. Diese Zahlen, die Ann-Sophie nachts aufwachen ließen. Panisch. Voller Todesangst. Immer wieder überkam sie diese Angst. Sie würde sterben. Dabei hatte sie noch so viel vor. So viele Pläne waren in ihrem Kopf gewesen. So viele Träume, die sie hatte. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, dass sie am See lag, lachend mit ihren Freunden, mit den Gedanken bei ihrem Leben als Studentin, das bald starten würde.

Dass ihre Pläne nicht mehr wahr werden würden, machte sie traurig, aber es tat nicht so weh. Was ihr wirklich wehtat, war, dass sie ihre Familie zurücklassen musste. Einsam. Verzweifelt. Traurig. Sie wusste genau, dass ihre Familie nie mehr das gleiche Glück empfinden würde, wenn sie nicht mehr da war. Dass sie nie mehr die gleiche Unbeschwertheit fühlen würden. Sie erinnerte sich auch ganz genau daran, wie ihre Mutter reagierte, als der Sohn einer Freundin ums Leben kam. Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mutter ihr über den Kopf streichelte und sagte, dass keine Mutter jemals wieder froh werden könne, wenn das Kind vor ihr stirbt. Das war es, woran Ann-Sophie dachte. An das Leid ihrer Familie, wenn sie nicht mehr da war. Sie hatte die Bilder vor sich. Ihre Mutter, verzweifelt, weinend. Ihr Vater, der versuchte seine Frau zu stützen, für sie da zu sein, obwohl er eigentlich selbst jemanden brauchte, der ihn hielt. Noch heute hat Ann-Sophie Tränen in den Augen, wenn sie darüber spricht, dass sie ihre Familie zurücklassen muss. Das war das Schlimmste für sie. Das Warten auf den Tod. Die Gewissheit, dass sie ihre Familie alleine lässt.


19. September

Heute hat Ann-Sophie ihr Handy meistens lautlos. Wochen und Monate war das Klingeln des Telefons die einzige Hoffnung, die sie hatten. Nie war das Handy ihrer Eltern aus. Selbst bei der Arbeit schalteten sie es nicht auf stumm und in jedem Meeting war es dabei. Ann-Sophie sagt, dass ein Telefonklingeln schlussendlich auch die große Erlösung bedeutete, trotzdem kann sie das Klingeln nicht mehr hören. Zu viel Leid war mit jedem Anruf verbunden, der nicht die gewünschte Erlösung brachte. Doch dann kam er. Der eine Anruf. Der eine erlösende Anruf. Ann-Sophie erinnert sich an die Stille, die folgte. Die Tränen, die ihrer Mutter über die Wangen liefen. Es war der Anruf, dass Ann-Sophie leben darf. Dass sie überleben wird, dass sie eine zweite Lebenschance bekommt, das verstand Ann-Sophie aber erst Tage später. Das war auch der Moment, als sie anfing zu weinen. Tränen, die sie in den letzten Monaten nur zugelassen hatte, wenn sie alleine war. Sie wollte niemanden belasten, indem sie weinte. Deswegen hatte sie die Tränen zurückgehalten. Nur nachts hatte sie sehr oft geweint, in der Dunkelheit, wenn es niemand mitbekam. Mit der Therapie kamen neue Ängste auf. Vor der Stammzelltransplantation wurde ihr krankes Knochenmark zerstört. Was wäre, wenn ihrem Stammzellspender etwas passiert? Es war der 19. September als ihre Ängste vergingen. Der Tag, an dem Ann-Sophie die Stammzellen transplantiert wurden. Der Tag, der ihr Leben rettete. Der Tag, an dem sie eine zweite Lebenschance bekam. Eigentlich hat Ann-Sophie im Mai Geburtstag, heute feiert sie zweimal im Jahr Geburtstag.


Karla

Karla. Zwei Jahre musste Ann-Sophie auf diesen Namen warten. Zwei Jahre, in denen sie sich fragte, wer ihr das Leben gerettet hatte. Zwei Jahre können sich sehr lange anfühlen, wenn man sich etwas so sehr wünscht. Ann-Sophie hatte Glück, dass ihre Spenderin sie auch kennenlernen wollte. Das erste Mal trafen sich Karla und Ann-Sophie in einem Café. Das Gefühl, das Ann-Sophie überkam, als sie Karla das erste Mal gegenüberstand, kann sie nicht beschreiben. Es ist unbeschreiblich. Ann-Sophie stand einer fremden Frau gegenüber. Einer Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte und der sie trotzdem alles zu verdanken hatte. Denn dank ihr durfte sie leben. Dank ihr durfte sie ihre Träume doch noch leben. Und ihre Träume und Pläne hatte Ann-Sophie nicht vergessen. Natürlich kommt manchmal noch die Angst. Wenn Ann-Sophie sehr müde ist, bekommt sie Panik. Aber es wird besser. Sie ist stark. Und sie hat Rückhalt. Von ihrer Familie. Von Karla. Sie alle stehen an ihrer Seite. Ann-Sophie hat ein Lächeln auf dem Gesicht, als sie mir von ihrem Plan erzählt. Eines weiß Ann-Sophie ganz genau: Sollte sie jemals eine Tochter bekommen, wird sie Karla heißen. Den Namen der Frau, die ihr ein zweites Leben geschenkt hat.


* Die Namen wurden geändert


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